Der runde Literatentisch mit Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass und Siegfried Lenz

Ein Gespräch im Himmel

Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki und Siegfried Lenz sitzen gemütlich und entspannt an einem runden Tisch und plaudern miteinander.

 Marcel fragt Günter: Du bist derjenige von uns im Bunde, der erst kürzlich seine letzte Station erreicht hat. Wie gefällt es Dir hier im Himmel?
   Günter: Ach! Im Grunde ist es hier im Himmel schön, man muss sich um nichts mehr kümmern, ich kann endlich ICH sein. Woran ich mich aber bislang überhaupt nicht gewöhnen konnte, ist, dass man zwar von hier oben einen sehr guten Überblick hat, dass man aber nicht mehr das Wort ergreifen und sich in das Geschehen einmischen kann.
 
 Siegfried: Es wundert mich nicht, dass Du die Einmischung vermisst. Aber glaubst Du so wenig an Deine eigenen geschriebenen Bücher sowie Gedichte und deren nachhaltige Wirkung, dass Du Dich noch zusätzlich lautstark einmischen musst?

Günter herablassend: Du hast Dich zu Deiner Lebzeit aus allem herausgehalten, Dich hinter Deinen Büchern versteckt, bist nie angeeckt, von allen geliebt, ohne Ecken und Kanten. Summa summarum: langweilig.
     Um Deine Frage zu beantworten: Selbstverständlich glaube ich an die Wirkung des geschriebenen Wortes, aber auch Du müsstest begriffen haben, dass die Zeiten der Romantik und des Vormärz überwunden sind – in der noch die Vorstellung herrschte, dass man mit Literatur eine ganze Gesellschaft ändern und umkrempeln kann. Nein! Es gäbe noch so vieles zu sagen.

 Marcel wendet sich Günter zu und fragt: Wozu würdest Du gerne etwas sagen, Günter?

 Günter: Ich halte die Debatte, ob es angemessen ist, dass die Satirezeitschrift Charlie Hebdo von dem Schriftstellerverband PEN ausgezeichnet wird, für völlig überflüssig.1  

 Siegfried: Ich verstehe Dich nicht, Günter. Du bist ein Verfechter von gesellschaftlichen Diskursen und Du findest nun die Debatte über die Auszeichnung von „Charlie Hebdo“ überflüssig? Das würde ich gerne von Dir genauer wissen.

 Günter: Es wird höchste Zeit, dass die Satirezeitschrift ausgezeichnet wird. Wir brauchen die Satire, mehr denn je.

 Siegfried: Ich gebe Dir Recht, Günter. Wir brauchen die Satire. Ich stelle mir jedoch die Frage, ob man bei Charlie Hebdo und ähnlichen Magazinen wie „Titanic“ tatsächlich durchgehend von Satire sprechen kann. Für mich gibt es einen Unterschied, ob man in der Literatur Menschengruppen überzeichnet darstellt und jeder Leser für sich entscheiden kann, inwieweit er sich darin wiedererkennt, oder ob man einzelne Personen oder religiöse Gemeinschaften verunglimpft, diese Art von Satire hochjubelt, weil sie dem Zeitgeist entspricht. Einige dieser Artikel weisen faschistische Inhalte auf, und der Leser hat Mühe zu erkennen, dass es sich dabei nicht um dieses Gedankengut handeln soll. Auf diese Art von Satire kann ich gerne verzichten.
     Eine Satire sollte, wie alle anderen Genres auch, nach Qualität bemessen werden. Von hoher Qualität beispielsweise sind Professor Unrat von Heinrich Mann oder einige Schriften von Kurt Tucholsky.

 Marcel mischt sich mit einem Grinsen ein: Das war ja klar, Günter, dass Du für diese Auszeichnung bist. Du musst dafür sein, weil Deine Auszeichnung vom Literaturnobelpreis ebenfalls umstritten ist. Und ehrlich gesagt, bin ich mir bis heute nicht sicher, ob der Nobelpreis für Dich angemessen war. Einige Deiner Romane haben nicht das Niveau für eine solch hohe Dekoration.

 Günter wütend: Geht das hier im Himmel mit Dir so weiter wie früher? Gönn mir doch den Nobelpreis! Wie meine Romane auf Dauer bewertet werden, wird die Literaturgeschichte zeigen.
     (wird ruhiger) Mal abgesehen davon, ist auf Deine Aussage kein Verlass. Erinnerst Du Dich an die Gruppe 47, an den Tag, als ich aus meinem Manuskript Die Blechtrommel las und auch Du sehr begeistert davon warst? Als aber mein Roman veröffentlicht wurde, hattest Du nur noch abschätzige Kritik übrig.2 
 Marcel sehr beherrscht: Lenk nicht vom Thema ab! Auszeichnungen jeglicher Art sind fragwürdig.
 Günter: Aha! Aus diesem Grund hast du offiziell den Deutschen Fernsehpreis im Oktober 2008 abgelehnt. Aber du hast ein Ziel erreicht: Ab 2016 wird der Deutsche Fernsehpreis, wie die faz.net am 23.01.2015 berichtete, nicht mehr als Gala stattfinden.3 
 Marcel: Bleiben wir beim Literaturnobelpreis. Es muss einem merkwürdig vorkommen, wenn im Jahr 2010 der Chinese Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis bekommt, diesen aber nicht persönlich entgegennehmen darf, weil die chinesische Regierung darin eine Einmischung des Westens sieht, die durch die Hintertür in deren Politik sich einmischen möchte. Nur zwei Jahre später wird der chinesische Schriftsteller Mo Yan, der seiner Regierung sehr nahesteht, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Oder schaut Euch die Zeit an, als der ägyptische Schriftsteller Nagib Mahfuz 1988 damit ausgezeichnet wurde. Im Jahr 1988 wurde der Erste Golfkrieg beendet. Ägypten erlebte das neunte Jahr der Dürre. Weitere mögliche Konflikte waren nicht auszuschließen, die Muslimbrüder bekamen immer mehr Einfluss in der Bevölkerung. Da sich der ägyptische Schriftsteller seit langer Zeit sich gegen den fundamentalistischen muslimischen Glauben wendete und dafür eintrat, dass Religion und Staat voneinander getrennt werden müssen; so kann man die Verleihung des Literaturnobelpreises durchaus als einen Schachzug der westlichen Welt werten. (wendet sich an Günter und sagt mit einem nahezu zärtlichem Ton) Lieber Günter, Du musst davon ausgehen, als Du 1999 den Nobelpreis bekamst, dass auch dies aus Kalkül geschah. Bedenke: Du hast diese Auszeichnung als Danziger und Westdeutscher zehn Jahre nach dem Verfall des Ostblocks erhalten, also in einer Zeit, als die Verhandlungen der EU seit zwei Jahren (1997) um die Ostblockerweiterung unter anderem mit Polen liefen. (spricht sehr ernst mit einem aggressivem Unterton) Glaube mir, wenn Du Dich schon vorher mit Deiner SS-Vergangenheit geoutet hättest, glaubst Du etwa, Du hättest dann die Auszeichnung erhalten? Sei mal ehrlich, wir sind jetzt unter uns: Hast Du deshalb solange mit Deiner Offenbarung gewartet, bist Du den Literaturnobelpreis hattest?
 Günter völlig aufgebracht: Was bildest Du Dir ein, über mich zu urteilen?

 Siegfried: Ich bitte Euch, meine Herren, wir sind nicht mehr unter den Lebenden, wir sind hier im Himmel. So wie Ihr beide Euch verhaltet, wurde es im Nachruf über Dich, Günter, treffend bezeichnet: „Es war nicht die Trommel, es war die Pauke.“ Ich lese es Euch beiden vor, wenn Ihr gestattet, denn auch Du, Marcel, spielst dabei eine Rolle.
 Günter und Marcel nicken zustimmend und bitten Siegfried vorzulesen. Siegfried beginnt:
                                Es war nicht die Trommel, es war die Pauke

Nachdem Siegfried den Nachruf vorgelesen hat, ist es zunächst sehr still. Dann wendet sich Günter zu Marcel und fragt mit ruhiger Stimme:
     Marcel, was spricht gegen die Auszeichnung von Charlie Hebdo?


 Marcel: Der Verdacht liegt nahe, dass der Schriftstellerverband PEN sich in den Vordergrund der Medienaufmerksamkeit schieben will. „Charlie Hebdo“ ist noch in aller Munde, viele haben den Terroranschlag nicht vergessen. Vor dem Terroranschlag wurden diese Magazine von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die meisten Menschen hatten nur ein Achselzucken übrig, wenn beispielsweise die Titanic mal wieder nicht ausliefern durfte, wenn sie ganze Auflagen einstampfen mussten. Kurz nach dem Anschlag sind plötzlich viele Menschen für das freie Wort, sämtliche Politiker aller Couleur zitierten Kurt Tucholsky. Dem aber nicht genug. Staatsmänner und –frauen reihten sich scheinbar in die Demonstranten ein. In Wirklichkeit waren sie natürlich nicht im Menschenpulk, sondern in einer Seitenstraße von Paris, hinter ihnen Statisten und vor sich die Kameras. Sie wussten alle, wie man die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich lenken kann, und da kommt nun der Schriftstellerverband und möchte „Charlie Hebdo“ auszeichnen. Das riecht doch sehr danach, dass man auf den „fahrenden Zug“ der Medienaufmerksamkeit steigen möchte, man will vom Kuchen der Aufmerksamkeit naschen.1b Wer in der breiten Öffentlichkeit kennt diesen Schriftstellerverband PEN? Diese Auszeichnung ist eine Farce.
Siegfried: Marcel, Du hast Recht. Jede Auszeichnung ist fragwürdig, schon allein deshalb, weil wenige über andere urteilen, denn all jene, die in einer Zunft keinen Preis erhalten, scheinen dafür nicht würdig zu sein. Dennoch sollten wir der Mündigkeit der Leser vertrauen, die für sich entscheiden können, inwieweit sie den Halbgöttern – ob Verbänden oder Kritikern – glauben wollen oder es lassen.


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1, b Vgl. WDR 5 Sendung „Scala“ vom 29.04.2015; Redaktion: Sefa Suvak: „Nur sechs Weicheier?“
2 
Vgl. Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 235
3  
(): Vgl. Michael Hanfeld: Aus, aus, aus! Aus! Der Preis ist aus!, FAZ 23.01.2015, zuletzt abgerufen am 08.04.2016 


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