Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2018: Erster Tag
Folgende Autoren lasen:
– Raphaela Edelbauer, Österreich
– Martina Clavadetscher, Schweiz
– Stephan Lohse, Deutschland
– Anna Stern, Schweiz
– Joshua Groß, Deutschland
Auflösung des ICH`s
Heute Morgen beim Frühstück, noch bevor der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb begann, sinnierte ich darüber, welche Art von Prosa, welche Inhalte uns heute in Klagenfurt präsentiert werden würden und befürchtete, dass es glatte Texte sein könnten, die wenig Reibungsfläche bieten. Und eine Frage, die mir schon seit ein paar Tagen durch den Kopf kreist, wollte ich heute für beantwortet sehen: Inwiefern ändern sich durch die beiden Neuzugänge Insa Wilke und Nora Gomringer, die Rollenverteilung in der Gruppe der Juroren.
Wie es der Zufall so wollte, kann man am Ende des heutigen Tages (5. Juli 2018) feststellen, dass in fast allen Texten das Thema Persönlichkeit, die zwar körperlich anwesend ist aber entweder sich nicht äußern kann oder sich mehr oder weniger aufgelöst hat, vorkam.
Mit der ersten Autorin des Tages, Raphaela Edelbauer, sah ich mich in meiner Befürchtung mich schon fast bestätigt. In ihrer Prosa „Das Loch“ wird ein Bergwerk beschrieben, welches einsturzgefährdet ist. Die Ich-Erzählerin ist Geologin, die die Aufgabe hat, mithilfe von wissenschaftlicher Technik den Berg in seiner Gefährdung zu überprüfen. Abwechselnd wird zwischen der Befindlichkeit der Ich-Erzählerin und einer außenstehenden-distanzierten und zugleich ist es eine Person, die mitten im Geschehen ist, es könnte sich möglicherweise um einen Journalisten oder Journalistin handeln, in eine Art Montagetechnik mit eingebauter Kritik, wie man mit der Umwelt umgeht, in einer sehr üblichen literarischen Sprache, also einer gewöhnlichen Sprache das Problem dargestellt.
Selbstverständlich verteidigte der Juror Klaus Kastberger den Text der österreichischen Schriftstellerin, ist sie doch auf seine Einladung hin nach Klagenfurt gekommen, doch hätte er auch ansonsten ihren Text gelobt. Noch aus dem vergangenen Jahr ist die Erinnerung über den Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut noch präsent: Er neigt dazu, eher glatte Texte zu bevorzugen und im Laufe des Tages sollte ich mich wieder einmal darin bestätigt sehen.
Während es bei dem „Das Loch“ völlig wurscht war, ob man ihn vorgelesen bekommt oder selber liest, so sah es bei „SCHNITTMUSTER“ von Martina Clavadetscher ganz anders aus. Es handelt sich hierbei um eine lyrische Erzählung, deren Vielschichtigkeit sich vor allem erst dann erschließt, wenn man ihn selber liest. Eine alte Frau von 92 Jahren stirbt, Menschen nehmen von ihr Abschied, jeder mit seinem eigenen Bild, jeder auf seine Art, aber auch die alte Frau kommt gewissermaßen zu Wort. Schon während der Lesung von der schweizerischen Autorin verglich ich ihren Text mit dem von David Grossman „Aus der Zeit fallen“. Beide Texte haben trotz des Themas Sterben und Tod eine Kraft, die einen nicht mutlos zurücklässt, in beiden Texten kommen verschiedene Sichtweisen zu Wort. „SCHNITTMUSTER“ gehört für mich neben „Warten auf Ava“ von Anna Stern zu den stärksten Texten des heutigen Tages. Ähnlich wie bei Martina Clavadetscher kann auch die Protagonistin in „Warten auf Ava“ sich nicht an Gesprächen beteiligen, sie liegt im Koma, niemand kann mit Sicherheit sagen, ob sie jemals wieder aufwachen wird. Die Besucher, darunter ist der Lebensgefährte Paul, sprechen mit Ava in inneren Monologen, versuchen den Abschied von Ava zu vermeiden und werden doch mit der Möglichkeit des Sterbens von Ava konfrontiert. Mit intertextuellen Mitteln, angefangen mit dem Titel „Warten auf Ava“, wer denkt dabei nicht an das absurde Theaterstück „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett, lässt sich der Text auf dieser Ebene entschlüsseln. Leser*innen werden mit der Situation einer Komapatientin konfrontiert. Sämtliche Figuren schweben zwischen der Hoffnung auf ein Aufwachen und Weiterleben, symbolisiert durch die Schwangerschaft von Ava, zugleich kann niemand den Tod ausschließen. Anna Stern beschreibt das Ringen zwischen Hoffen und Bangen, einen Prozess, den sie alle durchlaufen (müssen) und hierbei verlässt die Autorin das Konzept des absurden Theaters, es wird Realität.
Interessant war hierbei die Reaktionen der Juroren. Stefan Gmünders Reaktion war und diesen Satz sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen und könnte möglicherweise Einzug in die Literaturgeschichte und darüber hinaus finden: „Man sollte nicht alles glauben, was man denkt.“ Ach hätte sich doch der eine oder andere Juror das mal zu Herzen genommen, dann wäre die Kritik eventuell nicht so barsch ausgefallen. Klaus Kastberger sagte, dass ihn der Text in keinster Weise interessieren würde; wieder einmal aber so kennt man ihn inzwischen. Andere suchten nach der Ursache für den Zustand von Ava und blieben dabei erfolglos, sie konnten zwar der einen oder anderen Stelle etwas abgewinnen, doch im Großen und Ganzen war eher Unverständnis da, bis auf Hildegard Elisabeth Keller, die sie zu den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen hatte und Insa Wilke. Beide verteidigten den Text und aus meiner Sicht zurecht.
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In den Texten von Stephan Lohse und Joshua Groß ist es vor allem der Sound, der Humor, der die Leser packt. In „Lumbumbaland“ von Stephan Lohse handelt es sich um einen Jugendlichen, der unbedingt ein Afrikaner sein möchte obgleich seine Herkunft dies erst mal nicht hergibt. Normalerweise streben Kinder und Jugendliche eher ein Vorbild an, dass bekannt ist, dass ihnen vermeintlich etwas voraus hat, Vorbilder, die allgemein Anerkennung genießen, zumindest unter Gleichaltrigen. Von daher ist es in mehrerer Hinsicht interessant, dass ein weißer Jugendlicher ein Afrikaner sein möchte. In „Flexen in Miami“ (Romanauszug) handelt es sich ebenfalls um Jugendliche oder junge Erwachsene, die sich im Drogenrausch befinden, das Ich durch Drogen sowie durch die mediale Vielfalt kaum bis gar nicht existiert, nach außen hin aber ein Schauspiel abgegeben wird. Besonders bei der letzten Lesung war ich auf die Kritik der Juroren gespannt und kam ins Staunen. Nora Gomringer konnte wenig mit dem Text anfangen, was mich perplex machte, bei ihr war ich ziemlich sicher, dass er ihr gefallen würde. Die nächste Überraschung war die Literaturkritikerin Insa Wilke, die begeistert war. Überhaupt zeigte sie sich heute von einer sehr angenehmen Weise, ja, sie ist in gewisser Weise Sandra Kegel ähnlich. Beide haben Lust an der Auseinandersetzung mit Texten, sind bereit, sich auch eher sperriger Prosa zu nähern, beide sind und waren bemüht, den Autoren gerecht zu werden.
Und das will ich zum Schluss auch noch loswerden: Eigentlich vermeide ich es, über Aussehen einzelner Menschen mich zu äußern, insbesondere wenn es um Frauen geht, da diese häufig darauf reduziert werden; doch die Bluse von Nora Gomringer hat mich den ganzen Tag immer wieder aufs neue irritiert. Auf ihrer Bluse war ein Konterfeis von unserer derzeitig amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Folgende Texte stehen als pdf-Datei zum herunterladen vom ORF bereit:
– Raphaela Edelbauer: (₪) Das Loch
– Martina Clavadetscher: (₪) SCHNITTMUSTER
– Stephan Lohse: (₪) Lumbumbaland
– Anna Stern: (₪) Warten auf Ava
– Joshua Groß: (₪) Flexen in Miami
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