„Schwarze Lügen“ von Kirsten Boie
Ausgestoßene Teenager
Die Spuren bei einem Banküberfall sind eine Voodoo-Puppe und ein leerer Zettel. Zwei Menschen werden bei dem Überfall verletzt und erinnern sich, dass der junge Täter mit einer hässlichen roten Tasche verschwunden ist.
„Kam ein Teufel vor in dem Miststück? Jedenfalls nicht als Hauptperson, oder? Als er es durchgeblättert hatte, war ihm zumindest kein Teufel aufgefallen.“
aus: Kirsten Boie: Schwarze Lügen, Seite 102
Kirsten Boie gelingt mit ihrem Kriminalroman Schwarze Lügen den Leser zu überraschen. Der erste Coup von ihr ist, dass sie einen Krimi geschrieben hat. Bislang veröffentlichte die renommierte Kinderbuchautorin Erzählungen und Romane. Die weitere Überraschung ist inhaltlicher Natur.
Zwei Jugendliche – Lukas und Linda – kommen aus wohlhabenden Familien, Kenneth und Melody stammen aus armen Verhältnissen, wobei Melody von allen vier Teenagern es am schwersten hat. Melody und ihre beiden Geschwister Amadeus und Soprano leiden unter dem alkoholkranken Stiefvater, der zu gewalttätigen Auseinandersetzungen neigt und ihm ansonsten alles gleichgültig ist. Wenn die drei Geschwister über ihn reden oder über ihn nachdenken, wird er stets „der Arsch“ genannt. Amadeus ist etwas älter als Melody und Soprano (die von allen Soppy genannt wird; sie ist vier Jahre alt). Alle drei Kinder lieben die Musik, Melody ist eine begnadete Klarinettistin. Dieses Talent wird ihr eine Tür öffnen, gleichzeitig gelingt es ihr, das Herz eines alten Herrn für die Belange der Jugendlichen zu gewinnen, der zuvor nichts für diese Altersgruppe übrig hat.
Kenneth besucht gezwungenermaßen seine Großtante in den Sommerferien. Seine Mutter ist alleinerziehend.
Lindas Vater ist Politiker, der seine Familie als Stimmenbeschaffer für die nächsten Wahlen betrachtet. Linda und seine Frau sind für ihn so was wie Schachfiguren, die er nach Belieben hin und her bewegen kann und wenn es sein muss, dann entfernt er sie ganz vom Spielbrett wie Linda, die er kurzerhand in den Sommerferien zu ihrem Opa ans Meer abschiebt. Linda kennt kaum ihren Großvater und ihr Opa will sie in seiner Umgebung nicht haben.
Über den familiären Hintergrund von Lukas erfährt man so gut wie gar nichts, außer dass die Eltern ein großes Anwesen besitzen, ihn in den Sommerferien trotz Nachprüfung alleine lassen, abgeschottet hinter Mauern und Überwachungskameras.
Als der Bankräuber flieht, stößt er zufällig auf Melody, die ebenfalls eine hässliche rote Tasche besitzt, und dabei werden die beiden Taschen vertauscht. Melody ist unfreiwillig im Besitz des Geldes aus dem Bankraub und wird nun von zwei Seiten gejagt: von der Polizei und von dem Bankräuber. Der Dieb will sein Geld zurück, entführt Soppy und erpresst damit Melody. Auf ihrer Flucht lernt sie zuerst Kenneth und später Linda kennen, die zwar keine Beweise haben und ihr dennoch glauben, dass sie nichts mit dem Überfall zu tun hat und helfen ihr.
„Natürlich waren sie nicht so blöde, nicht zu begreifen, dass sie schwindelte, bis sich die Balken bogen, das war schon klar. Aber dagegen tun konnten sie nichts. Und sie musste Zeit schinden.“
aus: Kirsten Boie: Schwarze Lügen, Seite 297
Etwas gewöhnungsbedürftig sind die schnellen Szenenwechsel, so als würde eine Kamera ruckartig sich im Kreis bewegen und kurze Sequenzen aufnehmen. Durch den schnellen Szenenwechsel entsteht eine erzählerische Dichte und ein hohes Tempo, und sobald man sich an diesen Stil gewöhnt hat, will man weiterlesen.
Der Text beinhaltet viele kurze Dialoge, die inneren Vorgänge erfährt man hauptsächlich über die Protagonistin. Durch die zahlreichen Dialoge entsteht eine Lebendigkeit, man fühlt und bibbert mit Melody, verstärkt wird es durch die Beschreibung ihrer Gedanken und Gefühle. Man wird förmlich mitgerissen in die Handlung, hineingerissen ins Geschehen.
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Die Schriftstellerin ist bekannt dafür, dass sie entweder mit Rollenverteilungen spielt wie in Seeräuber-Moses oder sich mit schwierigen Themen beschäftigt wie Depression in der Familie im Kinderbuch Mit Kindern redet ja keiner.
In Schwarze Lügen wendet sie sich dem Thema Rassismus zu. Vorerst erscheint einem alles eindeutig zu sein: Reiche gegen Arme, Schwarze gegen Weiße.
Anhand der Charakteren werden die Milieus beschrieben und jeder Teenager in diesem Kriminalroman fühlt sich von seiner jeweiligen Herkunft ausgestoßen. Auf der einen Seite sind die Einzelkämpfer, auf der anderen Seite schließen sich einen Teil der Jugendlichen zusammen, die Herkunft ist schnell belanglos und werden dadurch stark, stark als Gruppe und in ihrer Persönlichkeit. Das Opfer des perfiden Spiels bleibt zwar juristisch betrachtet ein Opfer, aber es geht gestärkt daraus hervor, während der Täter schwach und einsam zurück bleibt.
„Wir sind keineswegs ganz automatisch auch wirklich von dem überzeugt, von dem wir überzeugt sein möchten, dachte er. An dem unser logisches Denken schon lange keinen Zweifel mehr lässt. Dafür, was wir im allertiefsten Inneren immer noch glauben, ist so viel mehr verantwortlich. Wir kennen uns selbst nicht wirklich…“
aus: Kirsten Boie: Schwarze Lügen, Seite 372
Schwarz wird nicht weiß und weiß wird nicht schwarz aber es entsteht eine bunte Mischung an Grautönen. Kirsten Boie beschreibt das Phänomen des Rassismus ohne anzuklagen, ohne neue Vorurteile zu schüren, verpackt in einen sehr spannenden Jugendroman.
Kirsten Boie: Schwarze Lügen
Kriminalroman
Alter: ab 12 Jahre
416 Seiten
gebunden
erschien: 15.05.2014
Verlag: Oetinger
ISBN 978-3-7891-2015-2
Preis: 17,95 € (D), 18,50 € (A)
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