Pierre-Jean de Béranger: Der Bettler
Der Bettler
Ich will in dieser Rinne sterben,
Bin alt und siech genug dazu;
Sie mögen mich „betrunken“ schelten,
Mir recht! sie lassen mich in Ruh.
Die werfen mir noch ein’ge Groschen,
Die wenden ab ihr Angesicht:
Ja, eilt nur, eilt zu euren Festen,
Zum Sterben brauch’ ich euch doch nicht.
Vor Alter muß ich also sterben,
Man stirbt vor Hunger nicht zumal.
Ich hofft’ in meinen alten Tagen
Zulezt noch auf ein Hospital;
Soviel des Elends gibts im Volke,
Man kommt auch nirgends mehr hinein.
Die Straße war ja meine Wiege,
Sie mag mein Sterbebett auch seyn.
Lehrt mich ein Handwerk, gebt mir Arbeit,
Mein Brod verdienen will ich ja –
Geh’ betteln! hieß es, Arbeit? Arbeit?
Die ist für alle Welt nicht da.
Arbeite! schrie’n mich an, die schmausten,
Und warfen mir die Knochen zu;
Ich will den Reichen doch nicht fluchen,
Ich fand in ihren Scheunen Ruh.
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Ich hätte freilich stehlen können,
Mir schien zu betteln minder hart;
Ich habe höchstens mir am Wege
Ein paar Kartoffeln ausgescharrt;
Und immer aller Orten steckte
Die Polizei mich dennoch ein,
Mir raubend meine einz’ge Habe –
Du Gottes Sonne bist ja mein!
Was kümmern mich Gesetz und Ordnung,
Gewerb und bürgerliches Band?
Was euer König, eure Kammern?
Sagt, hab’ ich denn ein Vaterland?
Und dennoch, als in euren Mauern
Der Fremde Herr zu seyn gemeint,
Der Fremde, der mich reichlich speiste,
Ich Narr, wie hab’ ich da geweint!
Ihr hättet mich erdrücken sollen,
Wie ich das Licht der Welt erblickt;
Ihr hättet mich erziehen sollen,
Wie sich’s für einen Menschen schickt;
Ich wäre nicht der Wurm geworden,
Den ihr euch abzuwehren sucht;
Ich hätt’ euch brüderlich geholfen;
Und euch im Tode nicht geflucht.
– Pierre-Jean de Béranger –
* 19.08.1780, Paris, Frankreich
† 16.07.1857, Paris, Frankreich
Pierre-Jean de Béranger stammte aus einfachen Verhältnissen. Der französische Lyriker errang bei seinen Lesern mit seinen Chansons große Beliebtheit. Insgesamt verfasste er fünf Liedersammlungen und eine Autobiografie.
Das Gedicht „Der Bettler“ wurde von Adelbert von Chamisso ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung erschien am 10. Juni 1833 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ (27. Jg., 1833, Nr. 138, S. 549 beim Cotta Verlag in Stuttgart und Tübingen).
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