Schauplatz Verrat
Verrat hat viele Gesichter und viele Schauplätze. Martín Capparós benennt den Verrat als Enttäuschung der Gegenwart, Martin Walser manifestiert es in einer Person und Richard Flanagan hat den Hass trotz Verrats nie in seiner Familie kennengelernt.
Enttäuschende Gegenwart
„ Der Hunger“ schildert die gegenwärtige ungerechte Lage von fast einer Milliarde Menschen, die nicht sein müsste, aber für viele Realität ist und zu viele schauen dabei weg, so schildert Martín Capparós es im Gespräch mit dem Magazin Die Zeit .
Zurecht klagt der argentinische Weltbürger, Reporter, Historiker und Autor – Martín Capparós – im Gespräch mit Elisabeth von Thadden von dem Magazin Zeit-Literatur über die Satten, die „zwischen 30 und 50 Prozent der Lebensmittel wegwerfen“ 1 , während fast eine Milliarde Menschen hungern. Er unterscheidet zwischen vier Arten von Hunger, doch gleich welcher Art, der Hunger müsste nicht sein, da Lebensmittel mehr als genug vorhanden sind – eine Situation, die es in der Historie noch nie gegeben hat. Deshalb ist für Martín Capparós die Gegenwart so enttäuschend. Er sagt: „Wir leben besser denn je: länger, beweglicher, freier, weniger leidend. Und wir verfügen über alle Mittel, den Hunger heute aus der Welt zu schaffen. Die Enttäuschung liegt darin, dass wir es nicht tun.“ 2
Martín Capparós:
Der Hunger
„
Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“
Originaltitel: El hambre
Übersetzung aus dem
Spanischen
: Sabine Giersberg und Hannah Grzimek
Sachbuch
gebunden
844 Seiten
erschien: 02.11.2015
Verlag: Suhrkamp
ISBN 978-3-518-42512-1
Preis: 29,95 € (D), 30,80 € (A)
Zum Inhalt (Klappentext):
„Alle zehn Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind drei Millionen Kinder im Jahr. Insgesamt knapp neun Millionen Menschen. Jedes Jahr. Wir wissen das, wir kennen die Zahlen. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Es sieht aber nicht so aus, als würden wir es in absehbarer Zeit
lösen. Und das ist eine Schande.
Vier Jahre hat Martín Caparrós den ganzen Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren: Er war in Niger, wo der Hunger so aussieht, wie wir ihn uns vorstellen; in Indien, wo mehr Menschen hungern als in jedem anderen Land; in den USA, wo jeder Sechste Probleme hat, sich ausreichend zu ernähren, während jeder Dritte unter Fettleibigkeit leidet; in Argentinien, wo Nahrungsmittel für 300 Millionen Menschen produziert werden, obwohl sich viele Bürger kein Fleisch mehr leisten können.
Am Ende dieser Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest. Der Hunger, so Caparrós, ist keine Naturkatastrophe, die schicksalhaft über die Menschen hereinbricht. Der Hunger ist der krasseste Ausdruck der gigantischen sozialen Ungleichheit in einer Welt, in der das reichste Prozent mehr besitzt als alle anderen zusammen.“
Erste Sätze – letzter Tanz?
Die einen mögen ihn, die anderen lehnen ihn ab, dazwischen gibt es nichts, so analysiert Martin Walser im Gespräch mit Julia Encke von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Leser. Am 8. Januar 2016 ist der neue Roman „Ein sterbender Mann“ von Martin Walser erschienen, der mit dem Satz eingeleitet wird: „Mehr als schön ist nichts.“ Der Beginn des Romans fußt auf die Begebenheit, dass das Magazin Cicero zu einem Gespräch mit dem Philosophen und Autor Peter Sloterdijk eingeladen hatte und Martin Walser mit ihm diskutieren konnte, worüber er wollte. Im Vorfeld des Gesprächs schickte er dem Philosophen den Satz „Mehr als schön ist nichts“ zu.
Der neue Roman von Martin Walser handelt von Suizid und Verrat, dazwischen gibt es Tango.
Als Verrat empfindet der 88-jährige Schriftsteller bis heute die Literaturkritiken von Marcel Reich-Ranicki, insbesondere den Verriss über seinen Roman „Tod eines Kritikers“. Was ihn aber besonders ärgert, ist der Versuch „mich aus der Literatur hinauszuwerfen.“
3
Vor vierzig Jahren erschien der Roman „Jenseits der Liebe“ und Marcel Reich-Ranicki titelte seine Kritik in der FAZ am 27.03.1976 mit „Jenseits der Literatur“. Der Verriss beginnt mit den Worten: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“
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So war Marcel Reich-Ranicki, aber wenn ich jetzt an dieser Stelle mal eine kurze Anekdote erzählen darf. Als ich im Literaturbetrieb begann, ich völlig
unbedarft war, keinen blassen Schimmer von der Auseinandersetzung zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki hatte, mir das Buch mit den Aphorismen „
Meßmers Momente
“ in die Hände fiel, las ich es zunächst mit einer gewissen Euphorie, da ich durchaus mitbekommen hatte, dass Martin Walser einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller ist, so enttäuschend fand ich dann das Buch. Ich konnte nicht anders und ich schrieb einen Verriss, da ich zugegebener maßen sehr zornig war, dieses Buch überhaupt gelesen zu haben. Unter anderem schrieb ich:
„
Aphorismen
sollen dem Leser helfen, über sich und / oder bestimmte Themen nachzudenken, doch was macht man, wenn ein(ige) Gedankensplitter aus einer Erkenntnis besteht, die schon lange, sehr lange kursiert und von einer Größe wie Martin Walser stammt? Soll man es benennen und sich der Gefahr aussetzen, dass Fans über einen in verbaler Form herfallen? Oder wenn Aphorismen so allgemein gehalten sind, dass man darin alles oder nichts lesen kann…“ Zu dem Zeitpunkt, als ich diese Kritik verfasste, befand ich mich noch in der Übungsphase und hatte nicht den Mut gehabt, noch deutlicher zu werden. „Meßmers Momente“ hat in beiden Varianten (Gebunden und Sonderausgabe) bislang es zu keiner zweiten Auflage geschafft. Das spricht für sich.
Marcel Reich-Ranicki beendet seine Kritik mit den Worten: „
Doch gibt es Tiefpunkte, die sich als Wendepunkte erweisen. Hinter diesen Worten verbirgt sich keine Voraussage, wohl aber, das soll nicht verheimlicht werden, immer noch eine Hoffnung.“
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Geschenkt: Kein Schriftsteller mag negative Kritik, noch weniger zeigt er dafür Verständnis und Verrisse liebt er gar nicht. Aber da haben sich auch zwei Sturköpfe gesucht und gefunden, die beide nicht bereit waren (und sind), auch nur einen Millimeter nachzugeben, wie Martin Walser im Gespräch mit der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
im Grunde zugibt. Auf die Frage, ob er sich „vor Marcel Reich-Ranickis Tod mit ihm versöhnt“ hat, antwortete er: „Nein. Man hat mir das angeboten. Dann habe ich gesagt:
»
Er soll zu mir kommen, dann komme ich auch.
«
Und er hat dasselbe gesagt.“
6
Die ersten Sätze für den Beginn des nächsten Romans stehen schon fest. „Sein Name sei Schall. Rauch hätte ich ihn nicht nennen können. Schall schon.“
7
Wenn der höchste Gott der deutschen Literaturkritik noch leben würde, sähe der Titel seiner Kritik wahrscheinlich so aus: „Rauch hätte ich ihn nennen können. Schall nicht.“
In sehr kurzer Zeit hat der neue Roman von Martin Walser die Spiegel-Bestseller-Liste erklommen. Demnach hat er viele Leser, die sich für ihn begeistern können und der ewige Vorwurf gegen Marcel Reich-Ranicki ist unter diesen Umständen völlig überflüssig.
Martin Walser:
Ein sterbender Mann
Roman
gebunden
288 Seiten
erschien: 08.01.2016
Verlag: Rowohlt
ISBN 978-3-498-07388-6
Preis: 19,95 € (D), 20,60 € (A)
Zum Inhalt (Klappentext):
„Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als „Nebenherschreiber“ erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau, in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben „eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie“?
Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.“
Die Hölle des Eisenbahnbaus
Manchmal stellt man sich die Frage, welche Außenwirkung Deutschland wohl haben wird. Auf der Suche nach einer Antwort geht man von seinen persönlichen Kritikpunkten aus und man wird überrascht sein, dass Deutsche Anderswo gar nicht so schlecht wegkommen.
Der
australische
Schriftsteller, der lieber als Weltbürger oder als Schreibender bezeichnet werden möchte – Richard Flanagan – hat im Gespräch mit Wieland Freund von
Die Welt
gesagt, dass die
Deutschen
ein außerordentliches Mitgefühl haben, wie sie in der Flüchtlingskrise bislang bewiesen haben, während er sein Land kritisiert: „Die restriktive Flüchtlingspolitik meines eigenen Landes dagegen hat mich tief beschämt.“
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Richard Flanagan lebt in Tasmanien, dass mal eine Strafkolonie gewesen ist. Während des Zweiten Weltkriegs war sein Vater ein Gefangener der
Japaner
und musste mit an der Thai-Burma-Eisenbahn, auch als Todeseisenbahn bezeichnet, unter höllischen Bedingungen arbeiten. Die Erfahrungen seines Vaters als Kriegsgefangener ließ
Ric
hard Flanagan in seinen neuen Roman „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ einfließen. Das Ungesagte der Opfer, womit er auch seinen Vater meint, hat ihn geprägt und er brauchte zwölf Jahre für die Fertigstellung des Romans. Im Gespräch mit Wieland Freund schildert er: „Erst habe ich gedacht, ich werde nie fertig damit. Dann habe ich gedacht, danach schreibe ich nie wieder. In Wahrheit schreibe ich unbefangener seither, freier, ganz gleich, ob das, was ich
jetzt schreibe, etwas taugt.“
9
Richard Flanagan:
Der schmale Pfad durchs Hinterland
Originaltitel: The Narrow Road to the Deep North
Übersetzung aus dem Australisch-
Englischen
: Eva Bonné
Roman
gebunden
448 Seiten
erschien: 14.09.2015
Verlag: Piper
ISBN 978-3-492-05708-0
Preis: 24,00 € (D), 24,70 € (A)
Zum Inhalt (Klappentext): „Preisgekrönt entfachte Richard Flanagans Roman weltweit einhellige Begeisterung: Sein Held ist Dorrigo Evans, ein begabter Chirurg, dem eine glänzende Zukunft bevorsteht. Als der Zweite Weltkrieg auch Australien erreicht, meldet er sich zum Militär. Doch der Krieg macht keine Unterschiede, und während Dorrigo in einem japanischen Gefangenenlager mit seinen Männern gegen Hunger, Cholera und die Grausamkeit des Lagerleiters kämpft, quält ihn die Erinnerung an die Liebe zu der Frau seines Onkels. Bis er einen Brief erhält, der seinem Leben eine endgültige Wendung gibt. Richard Flanagans schmerzvoll poetischer Roman erzählt von den unterschiedlichen Formen der Liebe und des Todes, von Wahrheit, Krieg und der tiefen Erkenntnis eines existentiellen Verlusts.“
Ist Verzeihen möglich?
Martin Walser kann den „Verrat“ seitens Marcel Reich-Ranickis nicht verzeihen, obwohl es im Vergleich zu den beiden anderen vorgestellten Themen die harmloseste Form ist. Trotz der Attacken seitens des Literaturkritikers hat Martin Walser mit seinen Büchern Erfolg.
Der Vater von Richard Flanagan hat nie den Hass auf Japaner gesät, obgleich er unter ihnen als Kriegsgefangener Höllenqualen durchlebt hat, ein Verrat in seinen jungen Jahren an ihm begangen wurde und am Ende seines Lebens gelang es ihm sogar, wie der Schriftsteller erzählt, „seinen Frieden damit zu machen.“
10
Es bleibt und ist unverzeihlich, wenn es uns nicht endlich gelingt, den Hunger, trotz Überfluss von Lebensmitteln, aus der Welt zu verbannen. Martín Capparós hält sich bewusst in seinem Buch mit Ratschlägen zurück, um der gemeinsamen Suche nach Lösungen nicht im Weg zu stehen
11
und ergänzend: um niemanden aus der Verantwortung zu nehmen, sodass aus der Enttäuschung der Gegenwart ein Leben mit Zukunft für alle wird.
– Andrea Müller –
©
read
MaryRead
1
Elisabeth von Thadden: Vom Recht auf Essen, Zeit-Literatur No 48 – Hamburg, November 2015, S. 30
2
Ebenda, S. 31
3
Julia Encke: Gespräch mit Martin Walser – „Auf die Suizidalen lasse ich nichts kommen“, FAZ – 08.01.2016:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/martin-walser-im-interview-zu-ein-sterbender-mann-13994395.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
4
Marcel Reich-Ranicki: Jenseits der Literatur, FAZ, 27.03.1976, „Nachdruck“:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=14427
5
Ebenda
6
Julia Encke: Gespräch mit Martin Walser – „Auf die Suizidalen lasse ich nichts kommen“, FAZ – 08.01.2016:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/martin-walser-im-interview-zu-ein-sterbender-mann-13994395.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
7
Ebenda
8
Wieland Freund: Gespräch mit Richard Flanagan – „Die Todesbahn forderte mehr Opfer als Hiroshima“, Die Welt – 13.01.2016:
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article150949251/Die-Todesbahn-forderte-mehr-Opfer-als-Hiroshima.html
9
Ebenda
10
Ebenda
11
Vgl. Elisabeth von Thadden: Vom Recht auf Essen, Zeit-Literatur No 48 – Hamburg, November 2015, S. 30f.