Martin Walser: Ein sterbender Mann

Erste Sätze – letzter Tanz?

Die einen mögen ihn, die anderen lehnen ihn ab, dazwischen gibt es nichts, so analysiert Martin Walser im Gespräch mit Julia Encke von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Leser. Am 8. Januar 2016 ist der neue Roman „Ein sterbender Mann“ von Martin Walser erschienen, der mit dem Satz eingeleitet wird: „Mehr als schön ist nichts.“ Der Beginn des Romans fußt auf die Begebenheit, dass das Magazin Cicero zu einem Gespräch mit dem Philosophen und Autor Peter Sloterdijk eingeladen hatte und Martin Walser mit ihm diskutieren konnte, worüber er wollte. Im Vorfeld des Gesprächs schickte er dem Philosophen den Satz „Mehr als schön ist nichts“ zu.

Martin Walser , Frankfurter Buchmesse 2013

Der neue Roman von Martin Walser handelt von Suizid und Verrat, dazwischen gibt es Tango.
Als Verrat empfindet der 88-jährige Schriftsteller bis heute die Literaturkritiken von Marcel Reich-Ranicki, insbesondere den Verriss über seinen Roman „Tod eines Kritikers“. Was ihn aber besonders ärgert, ist der Versuch „mich aus der Literatur hinauszuwerfen.“ 1 Vor vierzig Jahren erschien der Roman „Jenseits der Liebe“ und Marcel Reich-Ranicki titelte seine Kritik in der FAZ am 27.03.1976 mit „Jenseits der Literatur“. Der Verriss beginnt mit den Worten: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ 2 So war Marcel Reich-Ranicki, aber wenn ich jetzt an dieser Stelle mal eine kurze Anekdote erzählen darf. Als ich im Literaturbetrieb begann, ich völlig unbedarft war, keinen blassen Schimmer von der Auseinandersetzung zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki hatte, mir das Buch mit den Aphorismen „ Meßmers Momente “ in die Hände fiel, las ich es zunächst mit einer gewissen Euphorie, da ich durchaus mitbekommen ha tt e, dass Martin Walser einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller ist, so enttäuschend fand ich dann das Buch. Ich konnte nicht anders und ich schrieb einen Verriss , da ich zugegebener maßen sehr zornig war, dieses Buch überhaupt gelesen zu haben. Unter anderem schrieb ich: Aphorismen sollen dem Leser helfen, über sich und / oder bestimmte Themen nachzudenken, doch was macht man, wenn ein(ige) Gedankensplitter aus einer Erkenntnis besteht, die schon lange, sehr lange kursiert und von einer Größe wie Martin Walser stammt? Soll man es benennen und sich der Gefahr aussetzen, dass Fans über einen in verbaler Form herfallen? Oder wenn Aphorismen so allgemein gehalten sind, dass man darin alles oder nichts lesen kann…“ Zu dem Zeitpunkt, als ich diese Kritik verfasste, befand ich mich noch in d er Übungsphase und hatte nicht den Mut gehabt, noch deutlicher zu werden. „Meßmers Momente“ hat in beiden Varianten (Gebunden und Sonderausgabe) bislang es zu keiner zweiten Auflage geschafft. Das spricht für sich. Marcel Reich-Ranicki beendet seine Kritik mit den Worten: „ Doch gibt es Tiefpunkte, die sich als Wendepunkte erweisen. Hinter diesen Worten verbirgt sich keine Voraussage, wohl aber, das soll nicht verheimlicht werden, immer noch eine Hoffnung.“ 3
Geschenkt: Kein Schriftsteller mag negative Kritik, noch weniger zeigt er dafür Verständnis und Verrisse liebt er gar nicht. Aber da haben sich auch zwei Sturköpfe gesucht und gefunden, die beide nicht bereit waren (und sind), auch nur einen Millimeter nachzugeben, wie Martin Walser im Gespräch mit der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Grunde zugibt. Auf die Frage, ob er sich „vor Marcel Reich-Ranickis Tod mit ihm versöhnt“
hat, antwortete er: „Nein. Man hat mir das angeboten. Dann habe ich gesagt: » Er soll zu mir kommen, dann komme ich auch. « Und er hat dasselbe gesagt.“ 4
Die ersten Sätze für den Beginn des nächsten Romans stehen schon fest. „Sein Name sei Schall. Rauch hätte ich ihn nicht nennen können. Schall schon.“ 5 Wenn der höchste Gott der deutschen Literaturkritik noch leben würde, sähe der Titel seiner Kritik wahrscheinlich so aus: „Rauch hätte ich ihn nennen können. Schall nicht.“

In sehr kurzer Zeit hat der neue Roman von Martin Walser die Spiegel-Bestseller-Liste erklommen. Demnach hat er viele Leser, die sich für ihn begeistern können und der ewige Vorwurf gegen Marcel Reich-Ranicki ist unter diesen Umständen völlig überflüssig.

Martin Walser: Ein sterbender Mann
Roman
gebunden
288 Seiten
erschien: 08.01.2016
Verlag: Rowohlt
ISBN 978-3-498-07388-6
Preis: 19,95 € (D), 20,60 € (A)

Zum Inhalt (Klappentext):
„Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als „Nebenherschreiber“ erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau, in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben „eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie“
Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.“… weiter


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1 Julia Encke: Gespräch mit Martin Walser – „Auf die Suizidalen lasse ich nichts kommen“, FAZ – 08.01.2016: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/martin-walser-im-interview-zu-ein-sterbender-mann-13994395.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
2 Marcel Reich-Ranicki: Jenseits der Literatur, FAZ, 27.03.1976, „Nachdruck“: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=14427
3 Ebenda
4 Julia Encke: Gespräch mit Martin Walser – „Auf die Suizidalen lasse ich nichts kommen“, FAZ – 08.01.2016: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/martin-walser-im-interview-zu-ein-sterbender-mann-13994395.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
5 Ebenda

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