„Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff
Außerkraftsetzung des Dialogs
Eine Liebe, die nach Italien führt und eine Überforderung darstellt; eine Beurteilung ist kaum möglich und Julius Reither nervt
Der große Erzähler und inzwischen Deutscher Buchpreisträger, so tönt es aus sämtlichen Ecken, Bodo Kirchhoff, beginnt seine Novelle „Widerfahrnis“ mit zwei Rentnern, die sich mehr oder weniger zufällig kennenlernen und spontan nach Italien reisen.
Leonie Palm, früher Besitzerin eines Hutladens und Julius Reither, früher Verleger, lernen sich am Montag, den 20.04.
kennen. Sie steht plötzlich abends nach 21 Uhr vor seiner Tür. Ist sie kühn oder verwegen? Sie kennt ihn nicht, nur sein berufliches Vorleben ist ihr bekannt. Nach kurzer Überlegung lässt er sie herein, im weiteren Verlauf des Abends beschließen sie, nach Italien zu reisen, um den besonderen Sonnenaufgang zu erleben.
Italien gilt bislang in der
Literatur
als Ausgangspunkt für die
Reise
zu sich selbst wie im
Roman „Reise im Mondlicht“ von dem ungarischen Schriftsteller Antal Szerb
(der
Protagonist
Mihály wandert durch dieses Land), erstmalig
1937
erschienen, oder als Erkenntnis der
politischen Gegenwart wie in der Erzählung
„
Mario und der Zauberer
“ von
Thomas Mann, oder als Bildungsreise wie im Reisetagebuch „Die italienische Reise“ von Johann Wolfgang von Goethe. Es reisten aber auch die französischen Schriftsteller Gustave Flaubert und Honoré de Balzac dort hin. Sie alle haben etwas gemeinsam: die Bewunderung für die Schönheit des Landes. Das gilt auch für Leonie Palm und Julius Reither. So kann Italien als ein Synonym für Bildung und / oder Entwicklung verstanden werden, bislang, denn Bodo Kirchhoff setzt dies außer Kraft. Beim ehemaligen Verleger findet überhaupt keine Entwicklung statt, bei ihm bleibt alles, wie es vor Beginn der Reise war, Leonie Palm interessiert sich für die Kunstschätze, es bleibt offen, inwiefern sie den Selbstmord ihrer Tochter überwinden kann.
„
Widerfahrnis“ ist ein Begriff, der vor allem, im religiösen Bereich eine Rolle spielt. Geht man davon aus, dass der Buchtitel gleichzeitig ein Arbeitstitel für Bodo Kirchhoff war, und davon kann man ausgehen, so ist es keine glückliche Wahl, denn allzu sehr wird diesem alles mögliche untergeordnet, hineingezwängt, wie seine ehemalige Angestellte Aster, die Julius Reither auch noch als „Kinderbibelschönheit“ bezeichnet. Aster floh von Eritrea über Lampedusa nach Deutschland. Das tagtägliche Drama bei Lampedusa wird von Bodo Kirchhoff mit keinem Wort erwähnt, stattdessen bekommt eine Flüchtlingsfrau ein Kind.
Überhaupt wird die Flucht
in der Novelle thematisiert ohne sie genauer zu beleuchten, sie wird angerissen ohne näher darauf einzugehen. Fast ist es wie ein Hohn auf die Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit und hat mit religiösem Charakter nichts mehr zu tun.
Die heilige Familie musste nach
Ägypten fliehen, als dem Herodes dies bekannt wurde, ließ er alle
unter zweijährigen Jungs töten, demnach das Drama schlechthin, aber all das scheint für Bodo Kirchhoff ohne Interesse zu sein, dafür packt er in die Klischeekiste.
Auch das Osterfest wird von Bodo Kirchhoff erwähnt und er versucht eine Parallele herzustellen zwischen den beiden Reisenden und dem christlichen Fest, aber das war es dann auch schon. Nachdem sich die beiden drei Tage kennen, kommt es zu einem Zwischenfall, die Erlösung, die Auferstehung, bleibt aber aus. Nur ein barmherziger „samaritischer“ Flüchtling aus Nigeria
erbarmt sich Julius Reither, anschließend soll er ihn als Dankeschön nach Deutschland bringen.
Julius Reither kann einem auf die Nerven gehen. Seine permanente Rechtfertigung, weshalb er genau in der Situation die „großen“ Worte in den Mund nehmen darf, während er es bei seinen Autoren gestrichen hätte, grenzt an Überheblichkeit. Die Argumente wirken alternativlos. Seine Hiebe über den Literaturbetrieb im Allgemeinen trifft manchmal die Sache sehr genau, meistens sind sie aber arrogant. Er war kein Besitzer von einem großen Verlag, eher dümpelte er vor sich hin, weiß aber sehr genau, was seine Kollegen falsch machen und das die
Schriftsteller, wahrscheinlich eine Anspielung auf Selfpublisher, nicht mehr richtig ticken, nur er ist der größte, noch der wahre Verleger.
Bodo Kirchhoff legt ihm die Begründung in den Mund, weshalb er keine langen Dialoge mag, da sie von Erzählfaulheit zeugen. Daran hält sich der deutsche Schriftsteller akribisch und lässt deshalb bei den Dialogen die Kennzeichnung dafür weg. So simpel kann man Dialoge außer Kraft setzen?
Wie schnell Julius Reither an seine persönlichen Grenzen gerät und überfordert ist, wird an dem dahergelaufenen Mädchen mit dem roten zerfetzten Kleid
deutlich. Anfangs wird er noch von ihrem exotischen Äußeren angezogen, doch als sie in Panik gerät, kennt er nur die autoritäre Hand, die Situation eskaliert.
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Es wird einiges in der Novelle umrissen, aber dabei bleibt es auch. Ob dies von großer Erzählkunst zeugt, sei dahin gestellt. Ein „Widerfahrnis“, sofern man es genau nimmt, findet nicht statt so wie alles im Stillstand verharrt. Die Italienreise dient kaum einer Entwicklung, vielleicht noch als Bildung bei Leonie Palm. Es fällt einem schwer, diese Novelle nach gut oder schlecht zu bewerten und so hält man sich lieber mit der Auskunft darüber zurück, ob die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis 2016 gerechtfertigt ist.
Den ehemaligen Verleger kann man vielleicht an einem Abend für ein Pläuschchen mit apulischen Rotwein aushalten, darüber hinaus wird man ihm lieber aus dem Weg gehen, die Novelle entfaltet wahrscheinlich ihre Wirkungskraft erst bei einem gewissen Alkoholspiegel.
–
Vanessa Sturm –
©
read MaryRead 2017
Bodo Kirchhoff:
Widerfahrnis
Roman
gebunden
224 Seiten
Format (H x B x T): 220 x 142 x 22 mm
Gewicht: 418 g
erschien:
26.08.2016
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN 978-3-627-00228-2
Preis: 21,00 € (D), 21,60 € (A)
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eingestellt am 12.07.2016