Memory: Juan Rulfo

Von der Hölle in den Himmel

In brütender Hitze fahre ich nach Sayula, in den Bundesstaat Jalisco. Dabei habe ich nur ein Ziel: ich will Juan treffen. Mir wurde gesagt, er würde in Sayula leben. Am Straßenrand sehe ich eine alte Frau, ich halte an, kurble das Fenster herunter und frage sie: „Wissen Sie, wo ich Juan treffen kann?“
Die alte Frau antwortet mit einer tiefen Stimme, die verrät, dass sie schon viele Jahre raucht: „Das ist kompliziert. Wenn Sie etwas Zeit haben, dann kommen Sie mit in meine bescheidene Hütte, dort habe ich eine Karte.“
Das Angebot gefällt mir ganz und gar nicht. In meinem Kopf wirbelt es, wie wenn man auf eine Website geht und sich hunderte von Pop-up-Fenstern öffnen. Drogen, Banden, Mafia, Mord, das sind die Schlagworte über Mexiko, die sich in meinem Gehirn eingebrannt haben. Freunde haben mich für verrückt erklärt, als ich ihnen erzählte, dass ich nach Mexiko fahren werde, in das Land, das aus Drogen, Verbrechen und Korruption besteht. Aber was soll ich machen? Wenn ich Juan treffen möchte, dann ist die alte Frau vielleicht meine einzige Chance. Kurz entschlossen steige ich aus, nehme alle wichtigen Papiere und andere Utensilien aus dem Auto raus, sperre ab und sage zu der Alten: „Ich habe etwas Zeit.“ Ich folge ihr in die Hütte, stelle fest, das sie nur aus einem kleinen Raum besteht. Der Boden ist naturbelassen, der Lehm wurde festgetrampelt, in einer Ecke liegt eine alte ausgefranste Matte, in der Mitte des Raums ist eine kleine Feuerstelle, an der Wand steht ein verrosteter Klapptisch, daneben zwei Stühle im selben Zustand, In der Hütte ist es noch unerträglicher als Draußen, überall schwirren Fliegen und Mücken herum.
Setzen Sie sich.“ Ich nehme einen von den beiden Klappstühlen, überprüfe, ob der mich trägt, setze mich. „Wollen Sie einen Kaffee?“
Nein danke“ antworte ich. Vorsichtig schaue ich mich um. Hier eine Waffe zu verstecken scheint unwahrscheinlich zu sein, wenn, dann trägt sie eine Waffe unter ihrem alten Kleid, dass mal sehr bunt war, doch inzwischen so ausgewaschen ist, dass man die Farben nur noch mit viel Phantasie erahnen kann. Sie schaut mich an, ihre dunklen Augen funkeln. Aus dem mulmigen Gefühl wird blanke Angst. „So, so, Sie wollen Juan treffen?“
Aus meinem Mund kommt ein ängstliches Ja. Mir fällt plötzlich der Spruch ein: Begegne deinem Feind mit einem Lächeln. Ich frage sie: „Leben Sie schon immer hier?“
Ich lebe schon seit ewigen Zeiten hier, habe miterlebt, wie Juan am 16. Mai 1917 geboren wurde. Sein Vater wurde im spanischen Bürgerkrieg – Guerra Cristera – ermordet. Das hat den Jungen ganz schön mitgenommen und nur ein paar Monate später starb auch noch seine Mutter. Für kurze Zeit konnte er bei seiner Großmutter leben aber dann…“
Erzählen Sie weiter.“
Er kam ins Waisenhaus. Er wollte studieren, ich glaube Literatur, dass muss so um 1936 herum gewesen sein, doch daraus wurde nichts. Stattdessen nahm er eine Regierungsstelle an. Zur Literatur hatte er dann doch noch gefunden. 1942 erschien seine erste Erzählung, elf Jahre später eine Kurzgeschichtensammlung. Einen kurzen Roman hat er auch geschrieben. 1955 erschien der unter dem Titel „Pedro Páramo“. Das war eine Sensation. Irgendjemand schrieb sogar « Die Geburtsstunde der lateinamerikanischen Moderne – Juan Ruolfos Roman Pedro Páramo »“ 1 . Er wurde sogar dafür mit dem Nationalen Literaturpreis von Mexiko ausgezeichnet. Wenn ich mich recht erinnere, war das 1970. Haben Sie eine Rakete?“
Was!!?? Was will ich mit einer Rakete? Ich verstehe Sie nicht.“
Na. Juan treffen.“
Hä?“
Ok. Anders gefragt: Haben Sie einen guten Draht zu Gott?“
Ich bin über diese merkwürdigen Fragen völlig verwirrt. Dabei schien sie doch bis gerade eben eine Frau mit klarem Verstand zu sein. Ich verstehe nur noch Bahnhof. Anscheinend sehe ich auch so aus, denn die Alte spricht weiter, wartet nicht auf meine Antwort: „Der gute Juan Ruolfo ist seit dreißig Jahren im Himmel, von der Erde ist er am 7. Januar 1986 gegangen.“
Dann bin ich umsonst hier rausgefahren?“
Ganz umsonst nicht.“
Stimmt. Ich habe Sie kennengelernt und die wichtigsten Informationen habe ich auch noch.“

– Sonja Schneider –
© read MaryRead

Gratulation und Memory

1

Juan Rulfo: Pedro Páramo
Originaltitel: Pedro Páramo
Übersetzung aus dem Spanischen : Dagmar Ploetz
Roman
Taschenbuch
175 Seiten
erschien: 18.02.2010 (4. Auflage)
Verlag: Suhrkamp
ISBN 978-3-518-46150-1
Preis: 8,99 € (D), 9,30 € (A)

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1 Andreas Breitenstein: Die Geburtsstunde der lateinamerikanischen Moderne – Juan Rulfos Roman «Pedro Páramo», Die Toten sind grössere Heere, Neue Zürcher Zeitung, 10.01.2009: http://www.nzz.ch/die-toten-sind-groessere-heere-1.1672837

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