„ Unwissenheit ist Stärke“
Der Redner betritt, begleitet vom Klicken, Klackern und Surren allerlei Geräte, die Bühne. Im Publikum gelegentliches leises Hüsteln und Rascheln. Am Rednerpult legt er sein Manuskript ab und nimmt einen Schluck Wasser bevor er sich räuspert und beginnt.
George Orwell sei ein englischer Publizist und Schriftsteller gewesen. Mit bürgerlichem Namen Eric Arthur Blair, ist er bis heute Referenzpunkt der Kritik an allgegenwärtiger Überwachung. Der Redner beschränkt sich auf die wichtigsten allgemeinen Informationen wie Orwells Lebensdaten (25. Juni 1903 – 21. Januar
1950), seine Laufbahn, Privates wie seine Wohnorte sowie seine zwei Ehen. Im Publikum nicken einzelne Kennerköpfe zur Bestätigung des Bekannten, eine größere Zahl von Zuhörern – offenbar Journalisten – tippen Notizen zum Vortrag in ihre Computer oder schreiben Live-Kommentare in sozialen Netzwerken. Manch einer hängt vielleicht sogar seinen Gedanken nach. Hier und da lachen Zuhörer oder honorieren kleine Anekdoten über Orwell mit einem Schmunzeln, als der Redner etwa erzählt, dass Orwell trotz seiner Lungenprobleme ein starker Raucher gewesen sei, dass er einen guten Tee ebenso zu schätzen gewusst habe, wie auch englisches Bier. Bei der Erwähnung des Bieres vernimmt man vereinzelt Applaus. Während seiner Schaffenszeit sei er allerdings hauptsächlich für seine journalistische Arbeit bekannt gewesen, für seine Essays, Kolumnen in Zeitungen und Zeitschriften sowie für seine Reportagebücher, aber besonders für seine Literaturkritiken. 1943/44 arbeitete er am Buch
Farm der Tiere
. Das Buch erschien dann am
17 August 1945 in Großbritannien und ein Jahr später in den USA am 26 August 1946.
Farm der Tiere
war ein internationaler Erfolg und machte Orwell zu einem gefragten Schriftsteller. Nun komme er, teilte der Redner mit, zum eigentlichen Kernstück seines Vortrags, dem Grund, warum man an diesem Tage zusammengekommen sei: das Jubiläum der beginnenden Arbeit an Orwells wohl bekanntestem Buch
1984
.
„ Langsame Journalisten sind hungrige Journalisten!“ |
Merklich richten sich manche Zuhörer in ihren Stühlen auf und zurecht, andere senken ihre Mobiltelefone, die anwesenden Journalisten dehnen die schreibbereiten Finger. Nicht, dass dies nötig wäre, denn die Profis haben ihren Text längst fertig, gespickt mit Informationen über Orwell und seine Bücher. Es müssen nur Notizen über den Redner, einzelne Adjektive zur Atmosphäre des Vortrags und über die Häppchen danach, ergänzt werden. Langsame Journalisten sind hungrige Journalisten! Der Redner macht sich bereit im Vortrag noch einmal alles zu geben, um seinen Zuhörern die angemessene Begeisterung für George Orwell und sein Werk einzuimpfen. Noch während der Redner ansetzt von Orwells dystopischem Roman
1984
zu erzählen, dessen Niederschrift er 1946 begann und der dann im Juni 1949 erschien, hört er hier und da das abschließende zuklappen eines Laptops. Einige haben die Ergänzungen in ihrem Text beendet und ihre fertigen Texte an die Redaktionen verschickt. „Wunderbar!“, denkt der Redner, „dann können sie ja jetzt richtig zuhören.“ Und so beginnt er von Winston Smith zu referieren und seiner unmöglichen Liebe zur athletischen Julia. Der Wunsch nach Privatheit und Intimität wird im Überwachungsstaat nicht toleriert, für beide beginnt ein Martyrium der Manipulation und Qual an dessen Ende wiederum die Liebe steht, die pervertierte Liebe des gebrochenen und ausgehöhlten Menschen zum alles beherrschenden Staat. Als der Redner seine Ausführungen beendet ist es völlig still im Auditorium, einzig das leise Surren der mitlaufenden Kameras ist zu vernehmen. Die Rede wird als Livestream übertragen, später soll es eine Zusammenstellung von Mitschnitten für das Fernsehen geben. Auf den Monitoren der Kameras ist vielfach das Bild des reglosen Redners aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, auf den Leinwänden neben dem Redner ziehen zusätzlich die letzten Stichworte der Rede vorbei. Seine Ausführungen über die täglichen Hasspredigten, das Zwiedenken – auch Doppeldenk genannt -, die Gedankenverbrechen, Neusprech und die Kontrolle der Vergangenheit im Roman
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haben das Publikum mitgerissen, und nachdenklich gestimmt. Die Vorstellung der drei verfeindeten Machtblöcke Ozeanien, Eurasien und Ostasien war für einige Augenblicke ganz real geworden und mit ihnen Smiths Schicksal
. Den großen Bruder nicht nur im Trash-TV, sondern in der Politik zu erleben hat noch jeden in Unbehagen versetzt, die Erfahrung mit einer übermächtigen Partei ist vielerorts historisch nicht gut ausgegangen und macht ein gebildetes Publikum wachsam.
Der Redner ist zufrieden als er in die Runde des Auditoriums blickt. Vereinzelt durchsucht schon der eine oder andere die sozialen Netzwerke nach dem Profil des Redners, oder ändert gar die eigene Statusanzeige von „gelangweilt“ zu „interessiert“. Der Redner durchbricht erneut die Stille und schließt nun endgültig mit den Worten „Die Verfälschung der Geschichte und die Veränderung der Sprache durch die totalitäre Partei verfolgt letztlich nur ein einziges, letztes Ziel: Kontrolle. Die Kontrolle wird zum Selbstzweck und die scheinbare Bedrohung der Bürger durch den Kriegswillen anderer Länder entpuppt sich als Vorwand. Die Bedrohung für dieses System geht nicht von äußeren Mächten aus, sondern von den eigenen Bürgern, sollten sie, Gott bewahre, einmal mündig werden.“ Wiederum Applaus.
Er
bedankt sich für die Aufmerksamkeit und tritt unter Beifall von der Bühne. Mit einem Seufzer der Erleichterung betritt der Redner den Aufenthaltsraum hinter der Bühne und lässt sein Skript auf den Tisch fallen. Gemächlich nimmt er sich die Krawatte ab, fährt sich mit den Händen durch das Haar und atmet deutlich hörbar aus, als plötzlich scheinbar von überall um ihn herum aus unsichtbaren Lautsprechern eine Stimme erklingt: „Na, bist du zufrieden mit dir?“ Der Redner verharrt wie angewurzelt in der Bewegung, schaut sich dann hektisch nach dem Sprechenden um ohne ihn erblicken zu können. Die Stimme fährt fort: „Das war ja wirklich ein beeindruckender Vortrag! Unsere Gratulation!“ Der Redner hebt langsam den Kopf und blickt mit deutlich zu laut klopfendem Herzen in dem scheinbar leeren Raum langsam nach oben. Sein schweifender Blick bleibt schließlich an einer ganz unscheinbaren Sicherheitskamera in der linken oberen Ecke des Raumes hängen. Die Lautsprecher, durch die die körper- scheinbar seelenlose Stimme erklingt, kann er weiterhin nicht ausmachen. „Wir möchten uns gerne mit Dir unterhalten, wenn Du nichts dagegen hast. Sprich einfach, wir hören Dich.“
„
Wer seid ihr denn? Wo seid ihr? Was?“ fragt der Redner verwirrt.
„
Sagen wir einfach, wir sind große Freunde deiner Vortragskunst. Wir beobachten dich und hören dir gerne zu. Mehr musst du nicht wissen.“
„
Was wollt ihr von mir?“ fragt der Redner zunehmend nervös. „Wir haben dir zugehört und heute war uns dein Vortrag zu realitätsfern. Wer soll das denn glauben, diese hässlichen kleinen Visionen von Orwell? Diese Paranoia vor der totalen Überwachung. So etwas gibt es bei uns nicht, das solltest du wissen. Stattdessen aber machst du mit deinen Erinnerungen an längst vergessene Texte die Leute nervös. Orwell hier und dort, angebliche Parallelen,
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in der Populärkultur. Das will doch niemand hören.“
Der Redner räuspert sich, bekommt sich in den Griff, unterdrückt das Zittern und spricht in den leeren Raum: „Das habe ich mir ja nicht ausgedacht. Dass die Leute darüber reden, dass es sie an das Buch erinnert, wenn es wieder um Massendatenspeicherung geht, um „präventive Verbrechensbekämpfung“ oder wenn es um die NSA geht, mit was soll man PRISM denn sonst vergleichen? Und wenn Künstler wie Bowie – Gott hab ihn selig! – oder andere sich des Themas annehmen, weil sie sich von der Überwachung bedroht fühlen, was kann ich dafür?“
„
Um Himmels Willen! Wir geben dir doch nicht die Schuld, dass das passiert! Da verstehst
du
uns ganz falsch. Das wäre ja töricht, da bist
du
ganz unschuldig. Aber musst du denn solchen Schmutz noch verbreiten? Diese Lügen, die Unterstellungen und falschen Verdächtigungen. Das ist doch würdelos. Es ist an
dir
damit aufzuhören.“
Der Redner fühlt sich schwindelig. „Ich weiß was bei Orwell passiert mit Leuten, die unerwünschte Gedanken oder unpopuläres Wissen haben und es gar verbreiten möchten. Was habe ich von euch zu erwarten?“
Schallendes Lachen erfüllt den Raum. Dann Schweigen. Dem Redner gefriert das Blut in den Adern. Alles in ihm zieht und ballt sich zusammen. Schließlich hört er die Stimme ausatmen. „Wir sind doch keine Barbaren, mein Freund! Dies ist nicht
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, dies ist 2016! Zuerst werden wir dafür sorgen, dass dein bedauerlicher Irrtum nicht fälschlicherweise in die Öffentlichkeit gerät. Die Fernsehausstrahlung haben wir abgesagt und den Druck der Artikel verhindert, Beiträge im Netz haben wir gelöscht und, oh ja, wir haben uns die Freiheit genommen den Livestream zu unterbrechen. Aber keine Sorge, deine Mühen sollen nicht umsonst gewesen sein, es wird über deinen Vortrag berichtet werden, aber der Vortrag hatte ein anderes Thema.“
„
Das ist doch nicht euer ernst! Das könnt ihr nicht machen! Wir leben immerhin noch in einem Rechtsstaat! Das ist nicht rechtens!“, doch schon im Sprechen kommen ihm die eigenen Worte hohl vor im fehlenden Angesicht der körperlosen Stimme.
„
Verklag uns doch!“, wieder bricht die Stimme in Lachen aus. Das Lachen schwillt an und verebbt in Kichern. Der Redner hält darauf hin keine Vorträge mehr, aus Angst davor, was mit Menschen passiert, die körperlose Stimmen zu hören glauben.
– Simone Jawor –
© read MaryRead
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George Orwell:
1984
Titel der Originalausgabe: Nineteen Eighty-Four
Übersetzung aus dem
Englischen
: Michael Walter
Mit einem Vorwort von Thomas M Disch
Roman – Science Fiction
Taschenbuch
392 Seiten
Verlag: Heyne
ISBN 978-3-453-16421-5
Preis: 8,95 € (D), 9,20 € (A)