Mütter Amerikas
lasst eure Kinder ins Kino gehen
!
scheucht sie aus dem Haus so dass sie nicht ahnen was ihr
vorhabt
es ist wahr dass frische Luft gut für den Körper
ist
doch wo bleibt die Seele
?
die im Dunkeln wächst, getrieben von silbernen
Bildern
und wenn ihr alt werdet da ihr doch alt werden
müsst
werden sie euch nicht
hassen
sie werden euch nicht kritisieren sie wüssten gar nicht
wie
sie werden ein glamouröses Land bewohnen
das sie zuerst an einem Samstag Nachmittag oder beim Schwänzen kennenlernten
sie könnten euch sogar
ihre
erste sexuelle Erfahrung
verdanken
die nur einen Nickel
kostet
und das ruhige Heim nicht stört
sie werden wissen wo Süßigkeiten herkommen
und kostenlose
Popcorntüten
so kostenlos wie das Verlassen des Films bevor er vorbei ist
mit einem angenehmen Fremden dessen Appartment im Himmel auf Erden Gebäude ist
unweit der Williamsburg Bridge
oh Mütter ihr werdet die kleinen
Lümmel
so glücklich gemacht haben da sie falls sie doch niemand im Kino aufreißt
nicht den Unterschied kennen werden
und wenn’s doch jemand tut ist es die schiere
Freude
und wie es auch sei sie werden wirklich unterhalten worden sein
statt dass sie im Garten rumhängen
oder oben in ihrem Zimmer
euch vorbeugend
hassend wo ihr ihnen doch noch nichts fürchterlich Schlimmes angetan habt
außer eben jenes: sie von den dunkleren Freuden fernzuhalten
was zuletzt unverzeihlich ist
also macht mich nicht verantwortlich dafür wenn ihr diesen Rat nicht annehmt
und die Familie zerbricht
und eure Kinder alt und blind werden und vor einem Fernsehapparat Filme sehen
die ihr sie nicht sehen ließt als sie jung gewesen
– Frank O’Hara –
*
27.06.1926, Baltimore, USA
†
25.07.1966, Long Island, USA
Frank O’Hara
ist neben John Ashbery der wichtigste Vertreter der sogenannten ersten Generation der New York School
.
Nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg studierte er in Harvard. Zu seinen Einflüssen gehören neben der Musik, Malerei und Popkultur der Jahrhundertmitte auch die französischen Symbolisten und in besonderem Maße Boris Pasternak. Anfang der 50er Jahre zog Frank O’Hara nach New York und arbeitete dort für das Museum of Modern Art, ab Anfang der 60er Jahre als Kurator. Er war wie die anderen Dichter der New York School mit vielen Malern des abstrakten Expressionismus befreundet. Zu seinen berühmtesten Gedichten gehören „Why I am Not a Painter“, „The Day Lady Died“ und das kürzlich in der erfolgreichen Fernsehserie Mad Men zitierte „Meditations in an Emergency
“.
Zu Lebzeiten publizierte O’Hara nur wenige kleine Bände, der Großteil seines Werkes wurde erst bei der Zusammenstellung der Collected Poems durch seinen literarischen Nachlaßverwalter Donald Allen und seinem Verleger zusammengetragen. In Deutschland wurde O’Hara durch die Übersetzung des Gedichtbands Lunch Poems durch Rolf Dieter Brinkmann bekannt
.