Fabel: Die Schnecke und die Barmherzigkeit

Die Schnecke und die Barmherzigkeit

Viele Tiere sind an den See geladen und die meisten Tiere folgen der Einladung. Die Schmetterlinge schwirren herum, die Ameisen sind fröhlich, da sie heute nicht arbeiten müssen und auch die Bienen freuen sich, dass sie mal nicht von Blüte zu Blüte fliegen müssen.

Am See ist ein großer Platz und die Spatzen haben ein Mahl zubereitet, sie haben an jedes Tier gedacht. Nachdem sie ihre Bäuche vollgeschlagen haben, kommen sie ins Gespräch.
Die Ameise erzählt: „Ich arbeite gerne und schwere Dinge schleppen, macht mir keine Mühe. Aber ich wäre froh, wenn wir endlich eine Führung bekämen, die ein Auge zudrückt, wenn man mal nicht ganz so viel arbeiten kann.“
Daraufhin sagt die Biene: „Ich stimme dir zu, liebe Ameise. Auch ich bestäube gerne die Blüten, aber es wäre schön, wenn es regnet und ich deshalb nicht so gerne fliege, dass die Führung mir das nicht auch noch unter die Nase reibt.“
Der Schmetterling gibt seinen Senf dazu: „Oh ja. Wie schön wäre es, wenn man einmal den ganzen Tag das tun könnte, wozu gerade einem ist, ohne das man dabei sich anhören muss, dass man faul ist.“
Die Fliege hat das Gespräch mitverfolgt und sagt: „Ich fände es herrlich, wenn uns Fliegen keine Fallen mehr aufgestellt werden würden. Wir werden vom verführerischen Duft angelockt und wenn wir diesem Duft folgen, dann entpuppt es sich als eine langsame tödliche Falle. Die Schnecken und die Ratten lassen sich immer wieder was Neues einfallen. Die Schnecken können besonders lästig sein, langsam und lautlos kommen sie an gekrochen, aber nur um zu schauen, wie wir uns zu Tode quälen.“
Da sagt der Spatz: „Wisst ihr denn nicht, das wir eine neue Ratte haben? Eine Ratte, wie aus dem Bilderbuch: Sie ist sehr sozial, sie versteht uns und möchte nach und nach für uns alles verbessern.“
Die Insekten sehen sich erstaunt an und fragen: „Wir haben eine neue Ratte, die nicht mehr täglich von uns alles abverlangt? Die keine Opfer mehr von uns fordert? Die auch mal darüber hinwegsehen kann, wenn wir mal krank sind und nicht die volle Leistung erbringen können?“
Der Spatz antwortet: „Ja, so ist es! Die Schnecken werden in Zukunft euch nicht mehr so scharf kontrollieren. Wir werden alle mehr Rechte bekommen.“
Da freuen sich alle Tiere und tanzen miteinander.

Nach einiger Zeit sind wieder die Tiere an den See eingeladen und auch dieses Mal haben die Spatzen ein leckeres Essen zubereitet. Noch während der Mahlzeit kommen die Tiere ganz aufgeregt ins Gespräch.
Die Fliege erzählt: „Fast alle tödlichen Fallen sind verschwunden und die Fallen, die es noch gibt, dürfen keinen verführerischen Duft mehr beinhalten.“
Die Biene summt ganz aufgeregt: „Ich war neulich krank. Mein linker Flügel war gebrochen. Zufällig begegnete ich der Ratte. Sie sah mich mitleidig an, streichelte mich und sagte, ich könne mich so lange ausruhen, bis ich wieder gesund bin.“
Da fragten die anderen: „Wie sieht die Ratte aus? Ist die wirklich zu uns allen Tieren lieb?“
Die Biene, die nun im Mittelpunkt steht, antwortet: „Die Ratte sieht wie eine gewöhnliche Ratte aus, ohne Pompös wie ihre Vorgänger. Es gibt jedoch ein Merkmal, was sie von den anderen Ratten unterscheidet: anstatt der roten Füße hat sie weiße. Für jedes Tier, der sie begegnet, hat sie freundliche Worte.“
Der Schmetterling sagt: „Ja. Das Leben ist deutlich angenehmer geworden.“
Die Ameise bestätigt: „Wir werden zwar noch von den Schnecken kontrolliert, aber sie sind nicht mehr so böse, wenn wir weniger Lasten tragen.“
Der Spatz schaltet sich ein und sagt: „Wie ihr wisst, komme ich viel herum und ich höre überall, dass viele, viele Tiere glücklich sind über die neue Ratte. Sie ist zu allen Tieren lieb, lebt sehr bescheiden und ist immer fröhlich. Wenn ein Tier Hilfe benötigt, dann ist sie da und packt mit an.“
Man spürt, wie die Tiere aufatmen, denn endlich haben sie eine Führung, die zu allen barmherzig ist.

Wieder einige Zeit später gibt es das nächste Fest am See. Doch dieses Mal ist irgendetwas anders. Das Gerücht geht um, dass eine Schnecke ihr Haus hat neu bauen lassen. Das Haus musste erneuert werden, aber sie hat sich einigen Luxus erlaubt. Die Tiere sind stinksauer auf diese Schnecke und sagen: „Diese Schnecke erlaubt sich diesen Luxus auf unsere Kosten. Was für eine Unverschämtheit!“
Der Spatz gibt zu bedenken: „Diese Schnecke predigt uns, dass wir mehr opfern, mehr für die Schwachen da sein sollen, dass wir ihr zum Gehorsam verpflichtet sind. Wir sollen bescheidener sein. Und was macht diese Schnecke? Sie dreht sich langsam um und lässt ein Haus bauen, das viel zu groß für sie ist.“
Die Tiere sind zornig. Immer wieder fällt der Satz: „Diese Schnecke muss weg! Am besten umbringen!“
Der Spatz sagt: „Ich habe die Schnecke gesehen. Sie kriecht langsamer als sonst, aber sie kriecht noch.“
Daraufhin sagen die Insekten: „Diese Schnecke kriecht noch? Am besten verhöhnt sie uns auch noch. Die Ratte muss eingreifen, am besten sie verspeist diese Schnecke.“
Der Spatz kommentiert: „Die Schnecke muss wirklich weg. Sie kann zwar nicht mehr so richtig kriechen, aber sie muss unschädlich gemacht werden. Ich habe ihr Haus gesehen. Ihr ganzes Haus besteht aus purem Gold.“
Die Insekten brüllen im Chor: „Tötet sie! Tötet sie! Kannst du lieber Spatz sie nicht verspeisen?“
Der Spatz erwidert: „Das wäre ein leckeres Mahl. Schnecken sind meine Lieblingsspeise, aber so lange die Ratte nicht ihr Einverständnis gibt, muss ich mich leider zurückhalten.“
Die Insekten zeigen Verständnis für den Spatz und hoffen darauf, dass die Ratte dem Spatz anordnet, die Schnecke zu verspeisen.

Eine Maus hat in der Nähe dieses Platzes ihr Loch. Sie hat alle drei Festlichkeiten mitbekommen. Über die Tiere schüttelt sie verwirrt den Kopf und flüstert: „Das Haus aus Gold wollen sie bald alle sehen und werden dorthin pilgern, in der Hoffnung, der Glanz färbt auf sie ab. Arme barmherzige Ratte.“ Die Maus zieht sich noch tiefer in ihr Loch zurück und schämt sich.

– Eva Wespe –
© read MaryRead

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Fotos: © Susanne Grebe / Collage: © Ute Fischer


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